Was kann der Markt, was kann der Staat leisten?
Mit dieser Frage hat sich der Ortsverein Illingen vor einigen Wochen beschäftigt.
Auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, zu der wir eingeladen waren, hatte Hans Digel, Geschäftsführer des Bekleidungsherstellers Gustav Digel GmbH & Co KG in Nagold ohne Umschweife festgestellt: Als wir in Deutschland mit unserer Produktion nur noch Verluste machten, haben wir alle Produktionsbetriebe ins Ausland verlegt. Punkt. Das liess wieder Fragen nach der Zukunft des Standorts Deutschland aufkommen.
Was sagen die Gewerkschaften dazu? Schon knapp eine Woche vorher waren wir vom Ortsverein Illingen auf Einladung im Gewerkschaftshaus in Mannheim und erwarteten Antworten auf unsere Fragen. Solche Antworten versuchten zu geben: Rainer Bliesener Vorsitzender DGB-Bezirk Baden-Württemberg, Karin Roth MdB, Parlamentarische Staatssekretärin in Berlin, und vor allem Prof. Dr. Josef Esser, Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main.
„Märkte sind immer politisch gemacht. Man kann auf Märkte Einfluss nehmen. Märkte müssen politisch reguliert werden. Märkte können der Ausgrenzung bestimmter Interessen dienen“. Solche Sätze aus sachverständigem Munde sind wahre Kracher in unserer marktgläubigen Gesellschaft.
Welche Interessen werden denn derzeit ausgegrenzt? Antwort: wichtige Interessen von Arbeitnehmern. Einer von vielen Beweisen: Der jüngst erschienene Armutsbericht der Bundesregierung (der allerdings in Mannheim noch nicht vorlag). Da wird klipp und klar gesagt; die Armut nimmt zu in Deutschland. Wann gab es das schon einmal, dass die Löhne und Gehälter der abhängig Beschäftigten über Jahre real kaum gestiegen sind? Vielleicht wird es in diesem Jahr durch kräftige Tariferhöhungen etwas besser. Aber fast tägliche Meldungen über höhere Preise, die den Verbrauchern abverlangt werden, lassen eher befürchten, dass Lohnzuwächse durch Steigerungen der Kosten der Lebenshaltung aufgezehrt werden. Prof. Esser dazu: “Die Entwicklung von Löhne und Einkommen im Deutschland der letzten Jahre ist ein politischer Skandal!
Warum kann der Chef der Europäischen Zentralbank, Jean Claude Trichet, die Lohnerhöhungen in Deutschland der jüngsten Zeit scharf kritisieren und niemand hindert ihn?“ Die Europäische Zentralbank ist nur der Aufgabe verpflichtet, Inflation zu bekämpfen. Das war zu zeiten der Deutschen Bundesbank anders: Geldpolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und Außenhandelspolitik (sog. magisches Viereck) mussten auf einen Nenner gebracht werden.
Was hat das alles mit Globalisierung zu tun? In Deutschland sind zwei Millionen Arbeitsplätze in der Industrie weggefallen. Können wir Nokia hindern, nach Rumänien zu gehen, bringt Rainer Bliesener die Diskussion wieder auf den Punkt. Die Durchsetzungsbedingungen der Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren ganz wesentlich verschlechtert: Siehe Leiharbeit und befristete Arbeitsverhältnisse. Bliesener vermisst den klaren Willen der Politik. Nicht nur technologisch - innovative Transfers in die weniger entwickelten Länder, sondern auch soziale Standards müssen als verbindliche Normen übernommen werden, also technische Innovationen nur, wenn auch soziale Standards eingeführt werden. In diesem Satz könnte man so etwas wie einen Lösungsansatz sehen.
Ob das wohl funktioniert, wenn doch damit diese Länder ihren einzigen Wettbewerbsvorteil aus der Hand geben? In Polen und anderen Ländern der nach Osten erweiterten EU steigen die Löhne rasant. Ein Lichtblick?
Die Zuhörer der Veranstaltung, fast alles Frauen und Männer der
Gewerkschaftsbasis, machen ihrer Enttäuschung lautstark Luft. Rainer Bliesener verweist nochmals auf die verschlechterten Bedingungen, unter denen die Gewerkschaften gegenwärtig arbeiten müssen.
Herzliche Grüsse all unsern Freunden und Mitgliedern
im Namen des Vorstands
Hermann Baethge